- Lernen im Zeitalter der Digital Natives – Herausforderungen
für Lehrkräfte
- Der Streit zwischen Medienpädagogik und Neurowissenschaften
- MINT-Vermittlung im Klassenzimmer der Zukunft
- Weg vom Frontalunterricht – hin zu Projektbezogenen Lernen
- Zusammenfassung.
Armin Gardeia: Besonders freut mich bei der FLL das »Ganzheitliche Lernen«. Als Erziehungswissenschaftler stehe ich auf dem Standpunkt, dass effektives und nachhaltiges Lernen nur mit Spaß, Interesse und Motivation gelingen kann, alles Dinge, die es bei der FLL gibt. Ich freue mich auf alle, die zu uns kommen.
Mario Brauer: Ich finde es wunderbar begeisternd, dass man endlich mal Naturwissenschaften nicht abstrakt im Unterricht behandeln muss, sondern wirklich einen Praxisbezug hat. Wie gesagt, ich finde es immer wieder wunderbar zu erleben, wenn Schüler so einen Roboter bauen. Sie denken sich was aus, konstruieren den, bauen den zusammen und testen es dann und stellen fest, es geht nicht so, wie sie es sich gedacht haben, weil sie einfach über grundlegende physikalische Erkenntnisse d´rüber gestolpert sind! Solche Dinge wie Hebelgesetze, solche Dinge wie Reibung und, wie gesagt, Kraft ist Masse mal Beschleunigung, oder genau diese Dinge, die dann eben die Rolle spielen, wenn man so was versucht, umzusetzen, wo man dann einfach als Lehrer sagen kann: »siehst Du, das hast Du im Unterricht gelernt, warum hast Du nicht da dran gedacht?« Das ist eigentlich das, was das Lernen ausmacht!
Mit diesen einführenden Zitaten von Pädagogen – Erziehungswissenschaftler
der eine, Informatiklehrer der andere – ist die Quintessenz der
Aussagen der im Kapitel 6 interviewten LehrerkollegInnen aus
Österreich, der Schweiz wie aus Deutschland mit ihren jeweiligen
Best-Practice-Beispielen aus der Welt von FIRST® LEGO® League
hinsichtlich des Lernwertes dieses Angebotes recht treffend auf den
Punkt gebracht. Doch welche pädagogische Haltung spricht aus
diesen emotionalen Kommentaren? Welche Möglichkeiten bietet
FIRST® LEGO® League ihren teilnehmenden Teams, den Schülerinnen und
Schülern wie auch ihren Lehrerinnen oder Lehrern aus lerntheoretischer
und pädagogischer Sicht? Oder lässt sich aus dem Kommentar des
Erziehungswissenschaftlers aus Regensburg neben der Begeisterung für
FLL auch die tägliche Gratwanderung zwischen pädagogischem Anspruch
einerseits, wie dem dringenden Bedarf an Interessenförderung für die
MINT-Disziplinen entsprochen werden sollte, und andererseits
der alltäglichen Medien- und Erfahrungswelt von Schülerinnen
und Schülern zwischen 10 und 16 Jahren, also der so genannten
»Digital Natives«, herauslesen? Denn die, die sich so begeistert zeigen
von dem Angebot, dass FIRST® LEGO® League dieser Zielgruppe
bietet, sehen sich oft auch einer machtvollen Konkurrenz anderer
Erlebniswelten oder auch anderer Lernangebote ausgesetzt: seien
es die smarten Medienangebote, die so viele aus der Zielgruppe
vereinnahmen, seien es die konkurrierenden Lernangebote an ihrer
eigenen Schule, insbesondere, wenn diese vom Schwerpunkt her eher
musisch, sprachlich oder sportlich ausgerichtet ist. Oder seien es die
Rahmenbedingungen ihres Schulalltags, etwa wenn in Ländern
mit verkürzten Schullaufbahnen die für freiwillige Lernangebote
verfügbare Zeit unserer Heranwachsenden noch mehr eingeschränkt
wurde?
Verunsichernd wirkt auf viele Pädagoginnen und Pädagogen auch die
gegenwärtige, kontroverse Diskussion zwischen MedienpädagogInnen, die
»für jeden Schüler einen Laptop im Klassenzimmer« fordern, und den
dagegen argumentierenden NeurowissenschaftlerInnen, die ohnehin
vor der »digitalen Demenz« unserer »Digital Natives« warnen?
Was hat dieser Diskurs mit FIRST® LEGO® League zu tun? Bietet
FIRST® LEGO® League hierzu etwa eine Antwort, in Form einer
praktikablen Alternative für die MINT-Förderung? Zu diesem Diskurs
wie auch zu der Frage, wie sich MINT-Disziplinen attraktiver am
Lernort Schule vermitteln lassen, versucht dieses Buch interessierten
Pädagoginnen und Pädagogen eine Orientierungshilfe zu bieten.
Auch wenn FIRST® LEGO® League allein auf die MINT-Förderung
fokussiert, also nur ein Beispiel unter vielen Ansätzen sein kann, einen
attraktiveren Lernort Schule zu erzielen: FIRST® LEGO® League ist
pädagogisch und didaktisch gesehen ein darüber hinaus weisendes Modell
für attraktive, dennoch zielgruppenaffine und altersangemessene
Förderangebote außerhalb des Regel- und Frontalunterrichts an unseren
Schulen.
Wir müssen unsere Schülerinnen und Schüler möglichst früh fit machen
für die moderne Welt der digitalen Medien, dazu gehört eben nicht mehr
die Kreidetafel, sondern für jede Schülerin, für jeden Schüler ein Laptop!
So oder ähnlich ließen sich viele Plädoyers von MedienpädagogInnen in
Deutschland auf den Punkt bringen.
Professor Dr. Klaus Peter Jantke, Abteilungsleiter Kindermedien
am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie (IDMT),
Ilmenau, fasst diese Haltung aus der Medienpädagogik wie folgt
zusammen:
Wir – gerade wir in Deutschland, wo wenig Öl aus der Erde sprudelt, keine drei Ernten im Jahr möglich sind und kein karibisches Wetter Millionen zahlende Touristen an den Strand lockt – gerade wir müssen Technologien beherrschen. Wenn es um unsere Zukunft geht, ist das ein Muss, ein absolutes Muss. Computertechnologie steht im Mittelpunkt, ohne jeden Zweifel.…Wir brauchen mehr Kompetenz, nicht weniger. Und da muss man zeitig anfangen.
Die Landesmedienzentrale Baden-Württembergs
zieht in der Abwägung
zwischen Kritikern und Befürwortern der Forderung aus der
Medienpädagogik,
unseren Kindern frühzeitig mittels digitaler Medien die
Tore zur Welt zu öffnen, folgendes Fazit: »Es ist sicher notwendig, auf
Gefahrenpotenziale digitaler Medien hinzuweisen und es ist notwendig,
dies in Bildungsprozesse z.B. in der Schule einzubeziehen. Genau dies ist
neben anderen Funktionen die Aufgabe von Medienpädagogik.
Es
ist richtig, dass exzessiver, einseitiger, isolierter Medienkonsum
viele Gefahren in sich birgt. Aber wie bei allem kommt es auf die
Dosis, auf das Wie, auf die soziale Verankerung im realen Leben,
auf die Einbettung in persönliche Bedürfnisse und Gegebenheiten
an.«
[
3]
Im Gleichklang forderte die Projektgruppe Medienkompetenz der
Bundestags-Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« für
den Bereich Medienkompetenz: »Jede Schülerin und jeder Schüler
der Sekundarstufe sollte mit einem eigenen Laptop arbeiten
können «,
und zwar schon in der Sekundarstufe I, begleitet von entsprechenden
pädagogischen Konzepten und Qualifizierungsmaßnahmen. [10].
Wie bitte? Für jede Schülerin und jeden Schüler einen Laptop im
Klassenzimmer? Möglichst früh? Dann unsere Kinder lieber mit der
Kreidetafel arbeiten lassen! Jedenfalls werden dadurch viele Sinne
gleichzeitig aktiviert, sowohl der Frontallappen für Motorik im Gehirn
unserer Kinder als auch gleichzeitig die Bereiche für visuelles und auditives
Lernen werden trainiert, und warum die Kinder nicht dabei auch noch die
Kreide riechen lassen? Denn erst eine mehrere Sinne und damit mehrere
Hirnregionen anregende, also mehrdimensionale Lernanforderung erzeugt
vertiefendes, nachhaltiges Lernen und ist der Gegenentwurf zur digitalen
Demenz ,
unserer Digital Natives, die durch endloses Surfen im Web und auf den
Computer reduziertes »Lernen« erzeugt wird! So klingt es aus dem Lager
der Neurowissenschaften, die die Lernprozesse in unseren Gehirnen
untersuchen, sich dabei auch mit dem Lernen unserer im digitalen
Zeitalter Heranwachsenden auseinandersetzen und die entsprechenden
neuen Herausforderungen für unsere Lehrkräfte im Klassenzimmer der
Gegenwart wie der Zukunft analysieren.
In welchem anderen Forschungsfeld stehen sich derzeit wissenschaftliche
Lager so diametral gegenüber wie in der Welt der modernen Pädagogik
im Zeitalter der Digitalisierung?: auf der einen Seite die Verfechter des
»Laptops für jeden Schüler« aus den Hochschulen für Medienpädagogik,
auf der anderen Seite die NeurowissenschaftlerInnen, die große Sorgen
vortragen, dass die Generation der Smartphone-User derart reduziert
schreiben lernt, dass sie dadurch sogar verpasst, lesen zu lernen. Dieses
Lager argumentiert beispielsweise mit repräsentativen, international
anerkannten Panel-Studien aus China, die alarmierend darauf hinweisen,
dass heute sechs Mal so viele Viert- und Fünft-Klässler in China funktionelle
Leseschwächen zeigen als nur wenige Jahre zuvor (wiesen in den
vorangegangenen, alle 5 Jahre wiederholten Panels etwa 5 bis 7 Prozent
der Viert-Klässler funktionelle Leseschwächen auf – sie lasen nur auf dem
Niveau von Zweit-Klässlern – waren es laut der 2013 veröffentlichten
Panel-Studie bereits 42 Prozent!). Offenbar, so Hirnforscher wie Manfred
Spitzer ,
werden diese Kinder nicht mehr angehalten, die chinesischen Schriftzeichen
schreiben zu lernen, sondern können (und dürfen) diese ab Klasse
2 oder 3 mit ihrer Smartphone-App als Textbausteine abrufen.
Wenn sie diese aber nicht mehr zeichnen respektive schreiben lernen
(müssen), lernen ihre Gehirne funktionell entsprechend weniger,
diese zu lesen. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer zitiert hier aus der
Studie »China´s language input system in the digital age affects
children´s reading development«, vorgetragen an der Digitalen
Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart am 26.03.2013 unter dem
Titel »Lesen bildet – daddeln nicht«, [14] von 01:12:00 – 01:15:00
Std.
Zur Alltagserfahrung der hiesigen Lehrerinnen und Lehrer aus ihrem
Unterricht liegen (noch) keine verlässlichen Zahlen diesbezüglich vor, doch
äußern sich immerhin 32 % der von Iris Bockermann im Rahmen ihrer
Dissertation befragten angehenden Lehrkräfte (Studierende) besorgt zum
Einsatz digitaler Medien im Unterricht:
[sie] befürchten die Vernachlässigung und Verkümmerung anderer Kompetenzen, kognitiver Fähigkeiten statt eines Zugangs zur Welt, der vorwiegend über Primärerfahrungen möglich ist [2].
Bemerkenswert ist der hohe Prozentsatz auch deshalb, weil ja diese
angehende Lehrergeneration zum großen Teil selbst zu den »Digital
Natives« gehören dürfte.
Die Vertreter der Neurowissenschaften und Kritiker eines Einsatzes von
Laptops im Unterricht argumentieren für, im übertragenen Sinne des
Wortes, »sinnreichere« Lernangebote als Schlüssel für die Zukunft
unserer Kinder und »ihres« Bildungssystems, versus der abstrakten
Codes und Kürzel-Sprache auf »What´s App« und anderen Instant
Messaging-Diensten
oder der lernpädagogisch wertlosen Reizüberflutung beim meist und
schlussendlich ziellosen Surfen im Internet. Dadurch ersticke jede
Phantasie im Kopf, weil sie beim Lesen im Web durch Werbung und Icons
und Bewegtbilder gar nicht erst entstehen kann, so die Befürchtung aus
den Neurowissenschaften. Dagegen entstehen beim entschleunigten Lesen
in einem klassischen Buch eigene Vorstellungswelten und eigene
Bilder im Kopf. Erst hierdurch, und umso mehr, wenn Lese-Input in
Hausaufgaben oder im Unterricht auch noch durch händisches
Aufschreiben zusammengefasst oder wiedergegeben wird, erfolge
vertiefendes, weil sinnlich mehrdimensional vermitteltes Lernen. Wie sich
solcherart mehrdimensionale Lernanforderungen in unseren Hirnen
manifestieren, beschreibt der Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther wie
folgt:
Beim Aufbau der Nervenverschaltungen im Gehirn bilden die Sinnesorgane im Gehirn Erregungsmuster. Es entstehen immer stabilere und komplexere Bilder. Beim Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Fühlen und Schmecken werden Erkenntnisse ausgewertet und miteinander verknüpft. Je mehr Sinne beim Lernen beteiligt sind, desto besser prägt sich einem Kind die neue Erkenntnis ein. Das beste Spielmaterial bietet dabei die Natur. Wenn Kinder zum Beispiel mit Blättern spielen, tun sie das mit mehreren Sinnen gleichzeitig. Sie nehmen den harzigen Geruch wahr, fühlen die Blattadern, unterscheiden verschiedene Farbtöne, verändern die Form des Blattes durch Zerrupfen oder Falten. Kinder lernen also durch unmittelbares Erleben. Und dies können ihnen kein Computerspiel und keine Fernsehsendung der Welt bieten.
An dieser Stelle kommen von Seiten der Medienpädagogik im Hinblick auf
die Lernbedürfnisse der Digital Natives
eher pragmatische Einwände: »die
Faszination von Fächern aus dem MINT-Bereich
ließe sich in städtischen
Ballungszentren und noch viel weniger im Zeitalter der digitalen
Medien nun mal schwer auf reine Naturforschung im Fach Biologie
reduzieren; die Schüler und Schülerinnen in ihrer Lebenswelt abzuholen,
lege nahe, sie mit ihren und nicht gegen ihre alltäglich genutzten
digitalen Medien abzuholen, insbesondere zur Förderung ihres
Interesses für MINT-Fächer und zumindest, wenn es um diesbezügliche
schulische Angebote außerhalb des Regelunterrichtes gehe, die nun mal
weitgehend auf freiwilliger Teilnahme beruhen«. Entsprechend
empfiehlt Prof. Dr. Horst Niesyto
(einer der Kernexperten im von der
Bundeskanzlerin 2012 initiierten »Zukunftsdialog – Wie wollen wir
lernen? Arbeitsgruppe 5: Digitale und mediale Kompetenzen«) nach einer
Online-Befragung unter 6000 SchülerInnen zwischen 12 – 19 Jahren aus
2011:
Es geht aber auch den SchülerInnen darum, zu sagen, wir möchten stärker mit Medien gestalten, mit Medien produzieren, da sehe ich einen, nach der Umfrage, aber auch nach vielen anderen Erfahrungen, einen ganz großen Bedarf, dass da mehr Chancen geboten werden, nicht nur einmal im Jahr in einer Projektwoche ein bisschen Luft zu schnuppern, sondern, dass man schaut, wie man auch kleinschrittig dort Medienproduktionen machen kann, handy-integriert im Rahmen von Interviews, von Umfragen, von Exkursionen, da gäbe es so viele Möglichkeiten jenseits von Handy-Verboten….
Von daher erscheint es nur konsequent, dass die Projektgruppe
»Medienkompetenz« der Enquete-Kommission »Internet und digitale
Gesellschaft« des Bundestags in ihrem zweiten Zwischenbericht den
Laptop für Schüler
bereits im schulischen Regelunterricht fordert, und
dies wie folgt begründet:
Medienbildung leistet zunächst einen Beitrag zur Persönlichkeitsentfaltung. Die Entwicklung der Persönlichkeit in ihrer Relation zur sozialen Welt, zur Natur und Technik und zu sich selbst beinhaltet Aspekte der Medienbildung. Insbesondere für Jugendliche bieten Medien einen Raum zum Kennenlernen und Ausprobieren von unterschiedlichen Lebens- und Selbstentwürfen. Eigene Positionen können artikuliert und zur Diskussion gestellt werden.[8]
Der Einwand der Gegner von »Laptops im Klassenzimmer« aus der Riege
der NeurowissenschaftlerInnen,
die sich mit lernenden Gehirnen unserer
Kinder und Jugendlichen befassen, folgt prompt und lässt sich knapp
zusammenfassen: wenn Kinder und Jugendliche sich noch gar kein
Wissen durch Spiel draußen und jenseits der digitalen Bildschirme
haben aneignen können, fehlt ihnen die mehrdimensionale sinnliche
Wahrnehmung und Erfahrungs- oder Lerntiefe. Dann aber trifft die nur
visuelle Sinn-Beteiligung beim Schauen auf den Computerbildschirm auf
keine Bilder und Vorstellungswelten, mit denen ihre Gehirne sich beim
Surfen vernetzen könnten. Entsprechend lautet die Lernformel der
kognitiven Neurowissenschaft:
Unsere Digital Natives müssen sich erst mehrdimensional sinnvermitteltes Wissen aneignen können, bevor sie aus oder mit digitalen Medien etwas dazu lernen können, etwa aus den besagten »unterschiedlichen Lebens- und Selbstentwürfen« im Internet!
Wie passt dieser scheinbar endlos fortführbare Disput zwischen
Medienpädagogik und Hirnforschung zum eigentlichen Thema dieses
Roberta-Bandes, zu FIRST® LEGO® League? Vielleicht besser, als
den Initiatoren vor 16 Jahren bewusst war…? Jedenfalls fordern
FIRST® LEGO® League Wettbewerbe ein Lernen auf vielen Ebenen
und weit mehr als nur den Laptop: schon beim Erarbeiten des
Forschungsauftrags gemäß der jährlich wechselnden Themenvorgabe wird
(vielleicht sogar in Büchern) gelesen und der Input im Gehirn zu
Wissen verknüpft. Dessen Extrakt wird gedanklich in ein kreatives
Konzept für das Robot-Game übersetzt, diese kreative Leistung wird
anschließend in den Roboter mit seinen angebauten Instrumenten
konstruiert. Damit wird haptisch, motorisch, visuell, akustisch, also
sinnreich gelernt. Vermittels der Hände der Roboter-Konstrukteure
werden gleich mehrere Kortex-Areale, zumindest der motorische
und visuelle Kortex im Hirn unserer Kinder und SchülerInnen,
ausgebaut. Die Möglichkeiten der komplex konstruierten Roboter müssen
wiederum durch das Einprogrammieren zum digitalen Leben erweckt
und durch unendlich viele Feedbackschleifen aus »Versuch und
Irrtum«, durch Umprogrammieren und Umkonstruieren des Roboters,
perfektioniert werden. Wiederum ein effizientes, von Neugierde
getriebenes und nachhaltiges Lernen…, auch aus den eigenen Fehlern!
Schließlich bedarf es der Sprache, Gestik, ja häufig sogar musischer
Fähigkeiten, um den Entwicklungsprozess und die Erarbeitung zum
Forschungsauftrag als Teamleistung der FLL Jury und dem Publikum zu
präsentieren. So betrachtet, wirkt FLL wie ein Brückenschlag von
den digitalen Medien zu vertiefendem und nachhaltigem Lernen.
Wie reagierte doch einer der für dieses Buch befragten FLL Best
Practitioners
zur Frage nach dem »Laptop« oder dem »Roboter« für den Unterricht
seiner SchülerInnen spontan:
Roboter! Der Laptop ist so was wie ein Schreibstift, mit dem Stift allein kann ich nicht viel machen, aber mit dem Roboter kann ich Geschichten erzählen und das mache ich zum Beispiel. Bei mir in der ersten Klasse, die bauen Roboter, und erzählen den Roboter dann in einer Geschichte, also es wird dann wie ein Theaterstück und die sagen mir dann auch, das ist eben das, was wir brauchen: FLL Leute, die nicht nur den Roboter bauen, nicht nur programmieren, sondern dazu auch noch irgendwie auf der Bühne was präsentieren können und die präsentieren den Roboter meistens zu zweit und das sind ganz tolle Geschichten!
Das aktuelle FLL Jahresthema 2014/2015 lautet »Das Klassenzimmer der
Zukunft«, HANDS on TECHNOLOGY e.V. leitet hierzu ein mit den
Sätzen: »Wie sieht die Zukunft des Lernens aus? FIRST® LEGO® League
Teams werden es kennenlernen. Im Wettbewerb 2014 FLL World Class℠
können die Teilnehmer Ideen entwerfen, wie sich Schülerinnen und Schüler
im 21. Jahrhundert Wissen und Fähigkeiten aneignen. Die Teams können
dadurch Erwachsenen Wege aufzeigen, wie Kinder lernen wollen und
können.«
Zufall? …oder auch kein Zufall? FLL und ihr Jahresthema »Das
Klassenzimmer der Zukunft« sowie die moderne pädagogische Theorie
zum selben Thema können sich gegenseitig inspirieren: während die
teilnehmenden FLL Teams aus der modernen pädagogischen Theorie die
eine oder andere Idee für ihren aktuellen Jahreswettbewerb gewinnen
könnten, bietet sich FLL der modernen pädagogischen Theorie als
lebendiges Beispiel an - für deren Analysen und Schlussfolgerungen zum
Unterricht im »Klassenzimmer der Zukunft«:
Auch in der modernen pädagogischen Theorie ist der Wert des konkreten Handelns und Erfahrens wieder entdeckt worden, gestützt zum Beispiel durch Dewey, der auf die fundamentale Bedeutung von Erfahrung und Handeln hinweist [12]. Der Wert eines Greifens und intuitiven Zugangs mit dem Körper und mit allen Sinnen ist umso augenfälliger und einleuchtender geworden, je mehr die Lebens- und Arbeitswelt semiotisiert wurde, je stärker das Handeln vorwiegend an und mit Zeichen stattfindet und die handelnde sinnliche Erfahrung in den Hintergrund getreten ist. Neue Schnittstellen wie die der »Tangibles« oder der »Begreifbaren Interaktion« erlauben mehr und mehr einen handlungsorientierten Umgang mit Digitalen Medien. Wenn sie für Lehr- und Bildungszusammenhänge gestaltet werden, müssen sie es erlauben, den Blick auf die inhärenten Modelle frei zu geben statt sie zu verstecken. Wie Maria Montessori den Charakter ihrer Materialien so gedacht hat, dass sie auf wichtige Prinzipien hinweisen, muss das Design von digitalen Lernanwendungen von diesem Gedanken geleitet werden. [46]
Weil die für das FLL Jahresthema
arbeitenden Kinder und Jugendlichen ein
reales Forschungsproblem aus dem Kontext schulischen Lernens untersuchen
und lösen sollen, sowie autonome Roboter mit LEGO
® MINDSTORMS
®
bauen, programmieren und testen sollen, also dazu mehrdimensional sinnlich
und im ganzheitlichen Sinne aktiv werden, könnten ihre Aktivitäten
selbst gleich wie eine aus sich selbst anbietende Lösungsvariante zum
Jahresthema »Das Klassenzimmer der Zukunft« im MINT-Bereich
angesehen werden. Zumindest bieten ihre FLL Aktivitäten ein denkbares
Modell für eine ganzheitliche und problemorientierte Technikvermittlung
an den Schulen,
wie sie Professor Ortwin Renn, Vorsitzender der
Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech,
in einem
TV-Interview 2009 fordert: »Technikbildung muss eine Priorität an der
Schule sein, sie muss nicht unbedingt eigenes Schulfach werden, aber sie
muss als eigenständiges Element in der Schule vorhanden sein, sie muss
lebbar und erlebbar in dem gesamten schulischen Ablauf wieder erkennbar
sein.«
Dabei dachte Professor Ortwin Renn vielleicht nicht konkret
an FLL und ihr Jahresthema »FLL World Class«℠, aber
sehr wohl passend zum Forschungsthema rund um »Das
Klassenzimmer der Zukunft« fordert er eine Art von ganzheitlicher,
mehrdimensional sinnhafter Vermittlung von Technikverständnis und
–wissen:
Also das wäre so ein ideales Bild:…die Applikation, also die Anwendung sehen, auch die Folgen für Gesellschaft, für Wirtschaft, für Kultur sehen und dann noch einmal das Fach vertiefen, das man merkt ’aha, mit diesem Wissen können wir wirklich etwas beitragen, nicht nur zum Technikverständnis, sondern auch eigentlich zur Verbesserung der Lebensverhältnisse!’ Das kann schon in der Schule beginnen, ich bin sehr dafür, dass wir das Fach Werken wieder neu in den Schulkanon aufnehmen, weil Technik anders als Naturwissenschaft Gestaltung bedeutet. Und Gestaltung heißt, dass wir kreativ mit dem Material umgehen, dass man gewisse Ideen hat und diese Ideen möchte ich umsetzen und dazu muss ich irgendwie gestalterisch tätig sein…. Je lebensnaher das ist, und je näher es an meine eigene Realität herangeht, desto überzeugender ist das. Und dann sehe ich auch, dass Technik alleine es nicht ausmacht, sondern da muss eine Organisation dahinter stecken, da müssen Menschen dahinter stecken, das sind ganze Kommunikationshorizonte, die sich dabei erweitern, und dann merke ich eben: »ah, diese Technik ist eingebettet in einen Kontext und wenn ich diesen Kontext kennen lerne, dann merke ich auch, was für ein Sinn dahinter steckt«.
Soweit Professor Ortwin Renn von der Universität Stuttgart und der
Deutschen Akademie für Technikwissenschaften acatech.
Sein Plädoyer für eine sinnhafte Vermittlung von Technik offenbart
noch eine weitere schulpädagogisch bedeutsame Chance durch die
Teilnahme an Wettbewerben wie FIRST® LEGO® League. Ulrike
Petersen, Wissenschaftlerin für Informatik am Fraunhofer-Institut für
Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS ist eine der
Erfinderinnen des Konzeptes »Roberta – Mädchen erobern Roboter«
,
ähnlich wie FLL eine Art vertiefend und nachhaltig wirkendes Lernmodul
für den Brückenschlag in die digitale Sozialisationswelt unserer
Kinder. Ihr Fokus lag seinerzeit auf der Förderung des MINT- bzw.
Techniknachwuchses aus der Schar der häufig eher abseits stehenden,
desinteressiert wirkenden jungen Mädchen: »Jungs beschäftigen sich sehr
früh mit Technik, ohne dass weiterer Einfluss in der Schule ausgeübt
werden muss, während Mädchen immer eine Sinnhaftigkeit in dem sehen
müssen, womit sie sich beschäftigen. Und Jungs beschäftigen sich einfach
mit Technik, weil sie wissen wollen, wie sie funktioniert. Das heißt, wir
mussten unsere Experimente verpacken, sinnhaft verpacken, um es den
Mädchen schmackhaft zu machen. Und dafür haben wir insbesondere die
Biologie benutzt, denn das ist ein Fach, dass sie gerne mögen, und
darüber finden sie auch den Zugang zur Technik. Wir haben uns genau
angeguckt, was Mädchen eigentlich begeistert, welche Fächer, und das
sind in der Schule zum Beispiel, und auch im Studium, Biologie.
Und das war für uns der Ausgangspunkt: wir haben die ersten
Experimente wirklich im Bereich Biologie gemacht, zum Beispiel die
Ameisen oder auch die Bienen, der Bienentanz, die Ameisenstraße,
und haben das als Thema genommen, mit dem man sich zunächst
beschäftigt, bevor es daran geht, dass in die technische Umgebung
umzusetzen.«
Auch Praktiker vor Ort, wie etwa der Lehrer und Schuldirektor Günter
Offermann vom Friedrich-Schiller-Gymnasium in Marbach, am 10. Dezember
2007 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet, bestätigen die Erfahrungen
der Roberta-Erfinderinnen zum Aspekt »Mädchen und Technik« – Günter
Offermann :
Ein Mädchen würde sich dafür nicht ohne weiteres begeistern lassen. Es gibt nun Inhalte, die sprechen die Jungen automatisch an, ein Junge, so sind wir Jungs halt, wir sind da zufrieden, wenn wir einen 90-PS-Motor auf 91 PS entwickeln, und der braucht ‘n bisschen weniger Treibstoff. Genauso wissen wir, dass es Inhalte gibt, die Mädchen mehr anziehen, dazu gehört zum Beispiel Medizintechnik, Umwelttechnik. Man kann sagen, jede Technik, die offensichtlich dazu dient, die Welt zu verbessern, ist eine Technik, wo Mädchen sagen, da schau ich nicht weg, sondern da guck ich mal hin, das interessiert mich…. Deshalb müssen wir die Inhalte geschickt auswählen, …so dass Jungs und Mädchen sich angesprochen fühlen.…zumindest, wenn sie an der FIRST® LEGO® League teilnehmen wollen, umso mehr, wenn sie dazu in einem gemischten Team aktiv sind.
Doch wie sinnvoll auch immer ein Lernkonzept erscheint, zum
vertiefenden und nachhaltigen Lernen gehört ganz wesentlich etwas
Weiteres: der Faktor Begeisterung!
So jedenfalls argumentieren führende Lernpsychologen und
Neurowissenschaftler, etwa Prof. Dr. Gerald Hüther, Leiter der
Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung an den
Universitäten Göttingen und Mannheim:
Im Hirn ändert sich nur dann etwas, wenn man etwas tut, was Freude macht! Wenn es einem unter die Haut geht, wenn es einem wirklich wichtig ist! Dass man das machen will! Also immer dann, wenn man irgendwas gut hinkriegt, wenn man ‘ne Lösung für ein Problem findet, wenn man was zusammengebaut hat, was ziemlich schwierig war, wenn man dieses wunderbare Aha-Erlebnis hat, wenn man was tut, wo man merkt, dass man vorwärts kommt, dann werden im Hirn diese so genannten emotionalen Zentren aktiviert…, diese neuroplastischen Botenstoffe ausgeschüttet. Die müssen Sie sich so ähnlich vorstellen wie Dünger…. Das bedeutet, dahinterliegende Nervenzellen, Netzwerke, die man im Zustand der Begeisterung benutzt hat, die fangen plötzlich an, nochmal ganz andere Eiweiße herzustellen. Eiweiße, die gebraucht werden, um neue Fortsätze auszuwachsen, um neue Vernetzungen zu machen, und so funktioniert Lernen …. Jetzt wissen Sie, warum Schüler und später wir Erwachsene immer das behalten, für das sie sich begeistern!
…oder was sie neugierig machte! Auch die Neugier ist ein das Lernen
besonders verstärkender Trigger, wurden wir Menschen doch von
Kleinkind an (zumeist) belohnt, wenn wir unsere Umwelt begreifen
lernten, so dass unsere Neugier schließlich zu einer Art Leitmotiv wurde,
so Prof. Manfred Spitzer:
Der …Nukleus Cumbens schüttet bei Neugier endogene Opioide aus…dann macht das Spaß! Das Zweite ist, dass der Neurotransmitter Dopamin, über dieses System vermittelt, in weiten Bereichen des Gehirns ausgeschüttet wird und der bewirkt, dass rascher gelernt wird.[48] ab 3:00 Min.
Folgen wir den Neurowissenschaften, geht erfolgreiches Lernen nicht
über Anstrengung, es müssen die emotionalen Zentren aktiviert
sein. Die Neugierde und die Begeisterung sind wie ’Dünger’ für das
Hirnwachstum, nicht pures Brain-Jogging. Sowohl die Mädchen
als auch die Jungen im Reportage-Beispiel Graubünden (siehe
Einleitung) können sich begeistern für ihre FLL AG. Vielleicht auch,
weil FLL ein Arrangement vieler kreativer Tätigkeiten ist, vom
Entwerfen, Konstruieren über das Programmieren bis hin zu dem,
was LehrerInnen und andere MultiplikatorInnen in Schule und
Jugendbildungsarbeit die Domäne eher der Mädchen nennen: Themen
ganzheitlich erfassen, nach Sinnzusammenhängen suchen und das
Erarbeitete kommunizieren! Dies untermauert die Studie von Prof. Dr.
Heidelinde Schelhowe
vom Technologie-Zentrum Informatik und
Informationstechnik der Universität Bremen. Sie untersuchte 2007 die
gendersensitive Wirkung
des ehemals für Mädchen entwickelten,
inzwischen tradierten Roberta-Konzeptes
von Fraunhofer IAIS,
in dem
seit mehr als 10 Jahren Robotik als MINT-Förderansatz
für Mädchen
(und seit 2009 erweitert auch auf Jungen) entwickelt wird. Professorin
Schelhowe beschreibt die Suche von Mädchen nach dem Sinn und
nach dem Sinnzusammenhang, der für die meisten von ihnen mit
dem »Werkzeug Technik« verbunden sein sollte [
47]. Anlässlich
der 10-Jahres-Feier des Erfolgsprojektes ’Roberta – Lernen mit
Robotern’ lenkte sie 2012 die Aufmerksamkeit, gestützt auf ihre
Forschungsergebnisse, noch auf einen weiteren Aspekt der Tauglichkeit
dieses MINT-Lernansatzes gerade auch für die Mädchen – Prof.
Schelhowe
:
Gute Pädagoginnen und Pädagogen wussten das natürlich immer, dass man intrinsische, also hohe Motivation am besten dadurch erzeugt, dass man mit etwas Konkretem umgeht, dass man mit konkreten Dingen umgeht, dass man etwas herstellt! …»Roberta« ist genau deswegen auch erfolgreich: das ist nicht irgendeine digitale Medienanwendung, sondern ist deswegen gerade sehr erfolgreich, weil es dieses Virtuelle auch verbindet mit dem Haptischen und dem Stofflichen. Papert, der ja diese Robotertechnik erfunden hat, hat immer gesagt: »things to think«, das heißt, also man denkt mit diesen Dingen, man kann daran überprüfen, ob man richtig gedacht hat. Und man ist dann nicht mehr sozusagen auf das äußere Lob oder Tadel oder wie auch immer angewiesen und abhängig davon, sondern man kann sich daraus selbst seine Bestätigung auch holen - Das ist natürlich besonders für Mädchen, die in Bezug auf Technologie oft wenig Selbstvertrauen haben, besonders wichtig, dass sie aus dem Produkt selber sehen können, ob sie richtig gedacht haben, ob sie richtig gehandelt haben, ob das angemessen war, was sie getan haben. …stärker selbst nachzudenken, selber auszuprobieren statt sofort zu fragen, sich hilflos darzustellen, sondern sich stärker in den Prozess hinein zu bringen, dass sie sich mit dem Material beschäftigen, ausprobieren, experimentieren.
Erinnern wir uns, was in der Einleitung aus der Reportage von Andrina,
Jonas, Andri, Julian, Paulus und Gianluca in ihrem SchülerInnen-Aufsatz
»Unser Weg nach Pamplona« herauszulesen ist. Viel Begeisterung für
die FLL sowie viel Spaß am Lernen, Entwickeln und Erleben von
Selbstwirksamkeit in einer Team-Konstellation!
Als Kontrast zu dieser Begeisterung beim projektbezogenen Lernen im
Team und mit Blick auf den eher entgeisternden Lernkontext in unserem
üblichen Schulalltag fasst Professor Gerald Hüther, Neurobiologe an der
Universität Göttingen, die Ergebnisse aus der Lernmessung im klassischen
Schulsystem zusammen und bedauert die Lehrerinnen und Lehrer, die in
unserem klassischen Schulsystem versuchen müssen, unsere Kinder auf
das Leben vorzubereiten:
Sie müssten auch verzweifeln angesichts der statistischen Erhebungen, die ihnen sagen, dass 2 Jahre nach Abschluss des Abiturs, die Leute, die Abitur gemacht haben, bestenfalls noch 20 Prozent dessen wissen, was ihnen da in zwölf oder dreizehn Jahren beigebracht worden ist – da müssten sie eigentlich sofort ihren Dienst quittieren, wenn sie hören, das da kaum 20 Prozent noch da sind …da brauchen Sie eine andere Schulkultur!
Es nutze nichts, wenn Schüler für die Abiturnote glänzen, ihnen aber die
Lust auf das Lernen genommen wurde.
Laut Professor Hüther brauchen wir deshalb keinen Lerntyp, der lernt,
was Lehrer und Eltern von ihm verlangen, sondern die Tüftler-Typen, die
sich aus Lust und intrinsischem Antrieb einbringen möchten und Spaß
dabei entwickeln, mit anderen zusammen Herausforderungen zu
meistern.
Ihre Kreativität ist laut Professor Hüther »der einzige Rohstoff,
den wir im globalen Maßstab in Deutschland zu bieten haben.
Universitäten und Unternehmen beklagen ja das fehlende ’Tüftlertum’.«
[42]
Professor Hüther sieht die Lösung auch in einer Art Paradigmenwechsel
an den Schulen:
Viele Kinder fallen durch die Erbsensortieranlage, die unsere Schule geworden ist. Nach wie vor wird Begabung mit einer guten Schulnote verwechselt, nach wie vor stellen wir die analytisch-kognitiven Fähigkeiten in den Mittelpunkt. Der eigentliche Schatz, den wir fördern müssten, ist die Begeisterung am eigenen Entdecken und Gestalten, das Tüftlertum, die Leidenschaft, sich mit etwas Bestimmtem zu beschäftigen. All das wird bei den Pisa-Tests gar nicht gemessen [50]
FLL Trainer und Juror Dr. Michael Sieb vom TiRoLab
in Österreich ist
überzeugt, dass ein Lernangebot wie FLL eine sehr gute Antwort auf
diese Forderung der Lernforscher nach Tüftlertypen bietet. Er erlebt in
seinem täglichen Umgang mit FLL Teams vor allem Schülerinnen und
Schüler, die mit ihrem Engagement bei FLL ihr ganzes Potenzial
entfalten dürfen und sich zum Tüftler entwickeln dürfen. Diese
Erfahrung von Selbstwirksamkeit sieht Dr. Sieb auch als stärksten
Motivationsfaktor für die jungen FLL Teilnehmer: »Ich glaube, was in der
Schule selten passiert, …das die Kinder selbst zeigen können, was
in Ihnen steckt, ja! Die replizieren nicht vorgefertigte Pflichten
ja, sondern sie erarbeiten sich selber Lösungen und Aufgaben,
und sind ja stolz drauf, ja, auch bei der Forschungspräsentation,
denken sich die Dinge aus, die ja nichts mit dem Unterricht zu tun
haben oder mit dem Schulplan oder mit dem Lehrplan oder so – die
sind einfach stolz, zeigen zu können, was für Potenzial in ihnen
steckt.«
Vor diesem Hintergrund lässt sich FIRST® LEGO® League nicht
nur als Ergänzungsangebot für den MINT-Unterricht an Schulen
verstehen, sondern auch als eine Art pädagogisches Gegenmodell zum
lehrerzentrierten Frontalunterricht in den MINT-Fächern, bietet sie doch
gleich mehrere Angebote zur Persönlichkeitsentfaltung der Kinder:
Entfalten von Potentialen, Erleben von Selbstwirksamkeit und »Dünger
für ihr Hirn«, ausgelöst durch Neugier und Begeisterung.
Der Mitgründer von FIRST® LEGO® League, Dean Kamen hat sich mit
seiner Stiftung FIRST® zum Ziel gesetzt »to inspire young people’s
interest and participation in science and technology« und stieß
offenbar selbst schnell an die Grenzen der weltweit dominierenden
Verschulungs-Systeme, um unsere Kinder und Jugendlichen für
Wissenschaft und Technik inspirieren zu können. Jedenfalls schwingen im
»Mission Statement« von FIRST® für FLL die Erkenntnisse der
Neurowissenschaften zum vertiefenden und nachhaltigen Lernen deutlich
mit:
What FLL teams accomplish is nothing short of amazing. It’s fun. It’s exciting. And the skills they learn will last a lifetime [17].
Betrachten wir FIRST
® LEGO
® League als alternative Lernumgebung zur
besseren Potentialentfaltung,
bietet sie gleich noch eine Steilvorlage für
vertiefendes Lernen: das Sich-Aneignen von Wissen in der Peer-Group!
Dazu formuliert Professor Dr. Gerald Hüther:
Man braucht für´s Begeistern die anderen …wir wissen inzwischen, dass die besten Lernprozesse nicht einzeln funktionieren, alleine kann im Grunde überhaupt niemand seine Potentiale entfalten, sondern immer in Gemeinschaft [1] ab 1:04 Min.
Kinder müssen erfahren lernen, wie schön das ist, wenn sie ihre Erfahrung mit anderen teilen können. Zu erfahren, um das gemeinsame Ziel zu erreichen, brauchen wir einen, der wibbelig ist, weil der schafft bestimmte Dinge viel besser, genauso wie den Akkuraten, der fast zwanghaft pedantisch seine Ziele verfolgt [42] ab 20:30-21:04 Min.
Die Lernvorteile von Kleingruppen im Kontrast zum Lernen im
Klassenverband haben LehrerInnen oder andere MultiplikatorInnen, etwa
in der Jugendbildungsarbeit, fast alle schon erfahren. Auch die
Hirnforschung
fordert ein »Weg vom Frontalunterricht«.
Professor Gerald
Hüther wünscht unseren SchülerInnen ein entsprechendes Schulsystem
und LehrerInnen, die sich mehr als Potentialentfalter
ihrer SchülerInnen
fühlen, die wissen, »wie hilfreich und wie erleichternd es sein könnte,
wenn Lernprozesse in solchen Peer-Groups
tatsächlich stattfinden
könnten«, weil »Menschen niemals alleine ihre Potentiale entfalten
können, sondern immer nur in einer Gemeinschaft mit anderen,
und deshalb lernen diese Potentialentfaltungscoaches, wie man
aus einem zusammengewürfelten Haufen, was heutzutage ja fast
jede Schulklasse noch immer darstellt, ein leistungsorientiertes
Team macht!« Der Neurowissenschaftler argumentiert begeistert
gegen einen von Frontalunterricht und Fächerkanon geprägten
Schulunterricht unserer Kinder: »Das heißt, was man auch schaffen
müsste, dass man aus einem zusammengewürfelten Haufen, den
so eine Schulklasse meistens darstellt, dass man da Bedingungen
schafft, dass daraus ein leistungsorientiertes Team wird.« [
1] ab 1:11
Min.
Eine zentrale Bedingung für solch leistungsorientierte Teams ist
die erhöhte Aufmerksamkeit – und die kann gleich im doppelten
Sinne leistungsfördernd wirken. Zum einen, wenn sie sich in positiv
wertschätzender »Beachtung« des Einzelbeitrags wie des Teambeitrags
äußert. Zum anderen, wenn sie zu erhöhter Leistung der kleinen
Team-Gruppe beiträgt durch Vermeiden der paradoxen Effekte, die
großen Gruppen zu eigen sind – wie etwa eine Schulklasse, die ja in der
Regel nicht nur ein zusammengewürfelter, sondern auch ein großer Haufen
ist. .
Viele MINT-Lehrerinnen und Lehrer, aber auch viele Eltern stehen im
Zeitalter der »New Media« vor einem grundlegenden pädagogischen
Konflikt: Sollen unsere Kinder zur Förderung ihres Interesses an den
MINT-Fächern möglichst früh am und mit dem Computer lernen, weil
dies ihrer Lebenswelt in unserer technisch hochentwickelten Gesellschaft
entspricht, oder sollen Ihre Gehirne so lange wie möglich unter
Beteiligung möglichst vieler Sinne »reifen« dürfen? Sollen unsere Kinder
einen Zugang zu MINT eher in der Auseinandersetzung mit dem, was die
Natur bietet, erfahren, oder reicht es zur Förderung ihres Interesses an
MINT-Fächern, sie hierzu an den Computer zu setzen? Ein integratives
Lösungsangebot hierzu verkörpert FIRST® LEGO® League: denn ihre
Wettbewerbe fördern nicht nur das praktische Erfahren und Anwenden
von theoretischem MINT-Wissen, sondern ermöglichen, im Gegensatz
zum reinen Computerprogramm(ieren), ein »Learning by Doing« unter
Beteiligung gleich mehrerer Sinne, und damit, wie dargestellt, auch ein
nachhaltigeres Lernen. Hinzu kommen bei FIRST® LEGO® League
weitere lernfördernde Verstärker wie »aus Fehlern lernen dürfen«,
»Lernen im Team« (insbesondere, wenn die paradoxen Effekte
ungünstiger Gruppengrößen vermieden werden), »Lernen auf spielerische
Weise« und nicht zuletzt »Lernen aus Begeisterung« – in der Summe
bietet FIRST® LEGO® League den Kindern und Jugendlichen ein
vorbildliches Lernumfeld für Naturwissenschaft und Technik, denn
für erfolgreiches und nachhaltiges Lernen müssen einerseits die
emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert sein, und andererseits
stabile, komplexe Verknüpfungen im Gedächtnis ausgeprägt werden.
Letzteres gelingt, hirnphysiologisch betrachtet, am besten dann, wenn
haptische, motorische, visuelle, auditive, eben mehrere sinnliche
Wahrnehmungen ermöglicht werden. Dieses vertiefende Lernen
bietet FIRST® LEGO® League den reifenden Gehirnen, weil hier
»Learning by Doing« mit dem Herstellen konkreter Dinge verknüpft ist
und in einer Atmosphäre emotionaler Verstärker trainiert wird.
Darüber hinaus dient FIRST® LEGO® League, als den Regelunterricht
ergänzende Projekt-Arbeit, auch dem Trainieren von Soft Skills,
etwa kommunikativer Kompetenzen oder der Teamfähigkeit und
Kritikfähigkeit, sowie der Erfahrung von Selbstwirksamkeit.